6/25/2020
89 I 80 - Schweizerisches Bundesgericht
BGE 89 I 80 S. 85
BV, da der Grundsatz der Volkssouveränität erfordere, dass die Behörden vom Inhaber der Souveränität
gewählt würden, die Gemeindebehörden also von den Bürgern der von diesen Behörden verwalteten
Gemeinden. Der angefochtene Entscheid sei sodann willkürlich, weil die Bürger von Greng vor der Wahl
keine Einsprache gegen das Wahlverfahren (Wahl in einer gemeinsamen Wahlversammlung) erhoben
hätten und daher nicht befugt seien, das Wahlverfahren nach den Wahlen zu beanstanden (BGE 74 I 20).
Ferner sei der angefochtene Entscheid deshalb willkürlich, weil der Staatsrat damit ohne triftigen Grund von
einer langjährigen Praxis abgewichen sei.
D.- Der Staatsrat des Kantons Freiburg sowie die Beschwerdegegner Walter Straub und Mitbeteiligte
beantragen die Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Durch den angefochtenen Entscheid hat der Staatsrat die am 25. Februar und 4. März 1962 in
gemeinsamer Wahlversammlung durchgeführten beiden ersten Wahlgänge für den gemeinsamen
Gemeinderat von Merlach und Greng kassiert und bestimmt, wie bei den Neuwahlen vorzugehen sei. Diese
Gemeindewahlen gehören zu den "kantonalen Wahlen" im Sinne von Art. 85 lit. a OG (BGE 76 I 51, BGE
80 I 227). Die Beschwerdeführer sind stimmberechtigte Bürger der Gemeinden Merlach und Greng. Als
solche sind sie befugt, den Entscheid des Staatsrates sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen
Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 84 lit. a OG) als auch mit einer Wahlbeschwerde im Sinne
von Art. 85 lit. a OG anzufechten.
2. (Art. 6 lit. b BV gewährleistet kein verfassungsmässiges Individualrecht.)
3. Bei Beschwerden gemäss Art. 85 lit. a OG prüft das Bundesgericht die Auslegung von Bundesrecht und
kantonalem Verfassungsrecht frei, die Auslegung anderer kantonaler Vorschriften aber, sofern sie nicht das
schon
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von Bundesrechts wegen gewährleistete Stimmrecht nach Inhalt und Umfang normieren, sondern
Verfahrens- und ähnliche Fragen betreffen, nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel des Art. 4 BV
(BGE 83 I 176 Erw. 2 und dort angeführte frühere Urteile). Im vorliegenden Falle gehen die
Beschwerdeführer und die Beschwerdegegner übereinstimmend davon aus, dass es um den Inhalt und
Umfang des Stimmrechts gehe und die Kognition des Bundesgerichts daher unbeschränkt sei. Diese
Auffassung dürfte richtig sein, denn der Streit darüber, ob die Stimmbürger von Merlach die Vertreter nur der
eigenen oder auch der andern Gemeinde im gemeinsamen Gemeinderat zu wählen haben, betrifft wohl
nicht nur eine Verfahrensfrage, sondern auch den Umfang ihres Stimmrechts. Wie es sich damit verhält,
braucht indes nicht abschliessend entschieden zu werden, da der angefochtene Entscheid, wie sich aus den
nachstehenden Erwägungen ergibt, den in der Beschwerde erhobenen Rügen auch bei freier Prüfung
standhält.
4. Die Beschwerdeführer vertreten unter Berufung auf BGE 74 I 20 die Auffassung, die 14 Stimmbürger
von Greng, welche die in gemeinsamer Wahlversammlung beider Gemeinden durchgeführten Wahlgänge
vom 28. Februar und 4. März 1962 beim Regierungsrat angefochten haben, hätten das Recht zu dieser
Anfechtung verwirkt, weil sie vor den Wahlen keinen Einspruch gegen das Wahlverfahren erhoben hätten.
Nach einem vom Bundesgericht bereits in BGE 49 I 329 /30 aufgestellten und in BGE 74 I 21 Erw. 2, BGE
81 I 207 und zahlreichen nicht veröffentlichten Urteilen bestätigten Grundsatz verwirkt ein Stimmberechtigter
das Recht zur Anrufung des Bundesgerichtes, wenn er gegen das für eine Wahl oder Abstimmung
angeordnete Verfahren, das er für verfassungs- oder gesetzwidrig hält, nicht schon vor der Wahl oder
Abstimmung Einspruch erhebt, denn es wäre stossend und mit Treu und Glauben unvereinbar, wenn er
wegen eines Mangels, den er zunächst widerspruchslos hingenommen hat, hinterher
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die Wahl oder Abstimmung anfechten könnte, weil deren Ergebnis den gehegten Erwartungen nicht
entspricht. Selbst wenn dieser Grundsatz ohne weiteres auch für die Anrufung kantonaler Rekursinstanzen
gelten sollte, was nicht feststeht, so wäre er hier nicht verletzt. Es kommt darauf an, ob ein früherer
Einspruch nicht nur an sich möglich, sondern den Betroffenen nach den Umständen auch zuzumuten war
(vgl. die nicht veröffentl. Urteile vom 30. April 1958 i.S. Schär c. Bern Erw. 5 und vom 23. Januar 1962 i.S.
https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/clir/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=2&from_date=&to_date=&from_year=…
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